Wolfgang Lüttgens
Texte Gabriele Uelsberg
"Fragmente der Realität"
Katalogtext zur Ausstellung: "Arbeiten mit Fotografie, Installationen ...", Raum für Kunst, Aachen, 2003

Die Ausstellung, die Wolfgang Lüttgens für den Raum für Kunst in Aachen realisiert hat, zeigt konsequent sein künstlerisches Konzept, das sich in sehr unterschiedlichen Installationen, Skulpturen und Wandarbeiten artikuliert. Lüttgens verfolgt dabei in immer neuen Ansätzen seine gestalterische Vision über den Umgang mit Realität und Imagination.

Der erste Ausgangspunkt seiner Arbeit ist in der Regel ein konkret festgehaltener Moment der Realität wie ein Foto, eine Textspur auf einem Karbon-Schreibmaschinenband oder auch die Setzung eines Strichs auf Papier als Basis einer zeichnerischen Aktion. Diese realen Elemente nutzt Wolfgang Lüttgens dann wiederum in einem zweiten Zugang, um ihren Grad der Realität gleichsam wieder aufzuheben, zu zerstören und weiter zu fragmentieren. Im dritten Schritt entwickelt Lüttgens dann aus diesem Arsenal einen Kontext zum Raum und zur skulpturalen Dimensionen und schafft sowohl flächig abstrakte wie dreidimensional plastische Sensationen.

In den ältesten in der Ausstellung zu sehenden Arbeiten, seinen Behältern, hat Wolfgang Lüttgens in großen Kuben aus Holz versetzt eine Ebene eingesenkt, die aus fast unzähligen Schwarzweißfotografien zusammengesetzt ist und so eine Bildebene im Raum visualisiert, die sich sowohl als konkretes Bild- und Erinnerungsreservoir darstellt wie auch als abstrakt-formales optisches Element, das sich in seiner spezifischen Beschaffenheit in den Holzkuben als Tor oder Öffnung in einen dahinter liegenden offenen weiten Raum erweitert.

In der Installation „Gesänge", die Wolfgang Lüttgens für die Präsentation in Aachen realisiert hat, fließen eine Reihe von Schreibmaschinenbändern wie Bindfäden von der Decke herab auf den Boden und lassen im Ausschnitt Textfragmente erkennen, die der Künstler in vorhergegangenen Arbeitsschritten geschrieben hat. Diese Textfragmente sind zwar sinnhaften Texten entnommen, erweisen sich jedoch in der Betrachtung kaum dechiffrier- oder lesbar und treten ein für jenes unendliche Band von Erinnerungen und Gedanken, das sich für jeden Menschen und jeden Betrachter immer wieder neu in der Auseinandersetzung mit Kunst und mit Umwelt ergibt. Die Sichtbarwerdung der Schrift auf den Karbonbändern entsteht erst nach der Übertragung der Pigmente beim Schreiben. Der Text auf den Bändern ist immateriell, transparent und erst dadurch sichtbar. In diesem Sinne sind die Buchstaben Negative auf dem schwarzen Carbonband. Die von der Decke herabgespannten Schnüre besitzen darüber hinaus abstrakte Eigenwerte in ihrer Spannung und Präzision wie Zeichnungen im Raum, die auch wieder je nach Blickpunkt und Betrachterstandort selbst wechselnde Relationen zum Raum aufnehmen.

In ganz besonderer Weise thematisiert Wolfgang Lüttgens in seinem vor Ort realisierten Wandbild die Architektur. Er sagt dazu: „... Ich denke der architektonische Aspekt der Arbeit ist das Beziehungsystem von; vor der Wand, in der Wand und hinter der Wand. Dies steht im Zusammenhang mit den fragmentarischen Aspekten auf den Stanzen, eine wie auch immer geartete Bild-Einheit der Stanzen in Beziehung zur Wand ...". In die Putzfläche gesetzt finden sich wie in Intarsienarbeit Reihen gleichmäßiger Stanzpunkte, die aus unterschiedlichen fotografischen Arbeiten heraus extrahiert sind und verschiedene Aspekte verdeutlichen. Die Anbringung der Stanzpunkte in der Wand ist regelmäßig und nach geometrischen Gesetzen geordnet, wobei die Kreisformen kaum mehr als acht bis zehn Millimeter Durchmesser haben. Diese Stanzen sind so in den Putz der Wand eingelassen, dass sie absolut bündig sind. Dadurch kommt der Betrachter zu der erlebten Erkenntnis, dass es hier nicht um aufgeklebte Punkte geht, sondern um „Löcher" in der Wand, die den Blick auf eine andere Räumlichkeit eröffnen und damit in eine weitere Realität aufstoßen. Treten die Betrachter jedoch nur weniges von dem Wandbild zurück, wird deutlich, dass die Auswahl und Anordnung jener Fotofragmente durchaus nach formalen und nicht inhaltlichen Kriterien von Wolfgang Lüttgens ausgewählt wurden. Es ergibt sich schon aus baldiger Distanz eine formale Strukturierung der Wandfläche in Hell und Dunkel, Schatten und Lichtflecken mit dem Ergebnis eines abstrakt-spannungsvollen Rhythmus von unterschiedlichen Gewichtungen.

Die jüngsten Arbeiten der Ausstellung sind die sogenannten Atelierbilder, in denen der Künstler mit den Medien des Fotos, des Fragmentes und des Raumes in einer Ebene arbeitet. Entstanden sind hier fotografische Überlagerungen, die alle jene in den anderen Arbeiten angesprochenen Aspekte in einer Ebene verdichten. Wolfgang Lüttgens arbeitet hier mit bis zu acht oder mehr verschiedenen Einzelbildern aus seinem Atelier oder Umraum, die er partiell oder in Gänze übereinander legt und am Computer bearbeitet, wobei das übereinanderlegen der einzelen Schichten bereits digital am Rechner stattfindet. Im Gegensatz zu den klassischen Medien der Fotoüberblendung oder der Fotoüberklebung gelingt es hier, eine Ebenenverschiebung zu erreichen, die nicht mehr mit prozessualer Logik immer wieder ein Element über das andere setzt, sondern dem es möglich ist, aus einem Bildelement herausgelöst verschiedene Elemente zu isolieren, um sie in weiter hinter oder weiter vorne gelagerten Bildebenen zu positionieren. Da es in diesem Falle möglich ist, das Fragment noch weiter zur Auflösung zu bringen, erreichen diese Arbeiten ein Höchstmaß an abstrakter Qualität, ohne gleichzeitig immer wieder auch den Rückverweis auf die Realität und das konkrete Vorbild zu verweigern. Die Spannung zwischen Real und Abstrakt, zwischen Erinnern, Erkennen und Sich-Auflösen entwickelt sich hier in diesen Atelierbildern in einer einzigen Ebene und öffnet gleichsam einen Raum im Bild selbst. Die Transparenzen und Lichtintensitäten dieser Arbeiten führen den Rezipienten in der Betrachtung gleichsam optisch in die Wand hinein, ohne einen tatsächlich gebauten oder auch nur imaginierten Raumdurchbruch notwendig zu machen.Auch in den Zeichnungen, die in der Ausstellung zu sehen sind, werden ähnliche Aspekte thematisiert. Ausgehend von der konkreten Zeichnung verdichten sich die Strichfolgen immer mehr, so dass in den letzten Stufen der zeichnerischen Gestaltung die Zeichnung gleichsam wieder aufgelöst und das Papier fast bis zum Durchbruch überarbeitet wird. Auch wenn Wolfgang Lüttgens hier mit dem reinen Medium der Bleistiftzeichnung arbeitet, entwickelt er auch hier jene besondere Spannung zwischen Materialität und Abstraktion, zwischen Fragment, Auflösung und konkretem Detail, die allen seinen Arbeiten ihr ganz eigenes und unverwechselbares Gepräge geben.
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