Wolfgang Lüttgens
Texte Heike Sütter
"blick/wechsel/blick"
Katalogtext zur gleichnamigen Ausstellung, Neuer Kunstverein Aschaffenburg und Kunstfabrik Groß-Gerau


Fotografie, Manipulation, Erkenntnis
Zu den bis heute existierenden Irrtümern im Zusammenhang mit Fotografie gehört der Glaube an ihren Wahrheitsgehalt und dokumentarischen Abbildcharakter: „So und nicht anders ist es gewesen", scheint das Foto zu sagen, denn sein optisch-chemischer Herstellungsprozess suggeriert eine weitaus objektivere Darstellung der gezeigten Gegenstände als etwa die Hand-Arbeit der Malerei. Erst in der Ära digitaler Bildbearbeitungsprogramme sind die Manipulations-möglichkeiten von Fotos immer deutlicher in unser Bewusstsein gerückt.

In einem Essay über die Geschichte der Fotografie weist die amerikanische Fotokünstlerin Martha Rosler(1) nach, dass das Medium Fotografie seit seiner Erfindung von Manipulationen begleitet worden ist. Bereits in den Anfangsjahren wurden Motive durch Retuschen und Montagen verändert, um eine gewünschte Bildaussage zu erzielen oder zu verdeutlichen. Insofern ist die Geschichte der Fotografie auch eine Geschichte der Manipulation von Fotografie. Das Foto war niemals nur Endprodukt, sondern eben auch schon immer Ausgangsmaterial für Bearbeitungsprozesse - allerdings mit unterschiedlichen Vorzeichen: Während die berichterstattende Fotografie mit dem Anspruch antrat, eine möglichst perfekte, nicht mehr wahrnehmbare Manipulation zu erzeugen, blieb bei der künstlerischen Fotografie der manipulierende Eingriff meist erkennbar. Ziel war es hier, den Erkenntnis- und Wahrheitsgehalt der Bilder bewusst in Frage zu stellen.

Die amerikanische Kunsttheoretikerin Susan Sonntag (2) geht in ihrer Untersuchung über den Erkenntnisgehalt der Fotografie noch einen Schritt weiter: Für sie ist jede Form von Fotografie- auch die nicht manipulierte- als Instrument zur Abbildung von Wirklichkeit grundsätzlich ungeeignet. Ein Foto zeigt immer nur einen schmalen Ausschnitt von Raum und Zeit; es ist eine Momentaufnahme, dessen Entstehungsbedingungen den subjektiven Entscheidungen seines Produzenten unterworfen ist und deshalb lediglich eine von vielen möglichen Sichtweisen wiedergibt. Susan Sonntags Argumentation hebt darauf ab, dass die Realität zu komplex und vielschichtig ist, um durch eine fotografische Aufnahme erfasst bzw. kommuniziert werden zu können.

Oberflächlich betrachtet, hat Susan Sonntag natürlich recht, doch sie verkennt zweierlei: Zum einen erschöpft sich visuelle Erkenntnis von Realität niemals nur in dem Aufnehmen der äußerlich sichtbaren Erscheinungen, sie ist mehr als das Wahrnehmen von Dingen, auch wenn diese so authentisch wie nur möglich abgebildet sind. Zum anderen ist jegliche Art von Realitätsabbildung- nicht nur in der Fotografie, sondern auch in der Malerei, Schrift oder Sprache- eine Abstraktion, Vereinfachung oder Fragmentierung des eigentlichen Abzubildenden. Durch kein Medium der Welt, inklusive unserer eigenen Sinnesorgane, entsteht eine 1:1 übersetzte Form von Realität. Doch glücklicherweise besitzt der Mensch nicht nur Fähigkeiten zur Aufnahme von Eindrücken, sondern auch zu ihrer Verarbeitung. Durch unser Denken und Fühlen können Einzelheiten- Momentaufnahmen- miteinander in Verbindung gebracht und viele Facetten einer Erscheinung zu einer komplexeren Vorstellung verknüpft werden. Damit ist die Fotografie letztlich immer Material: Denk-Material und Assoziations-Material.

Das heißt auch: Fotografie als künstlerisches Medium wird in dem Moment interessant, in dem aus visuellen Eindrücken etwas Neues konstruiert wird; in dem sie es dem Betrachter ermöglicht, sich nicht allein mit dem Motiv, sondern auch mit der spezifischen Repräsentations- und Entstehungsform des Bildes zu beschäftigen. Dort, wo es der Fotografie gelingt, die Mechanismen und Grenzen ihres Mediums bewusst zu machen, kann sie durchaus zur Erkenntnis von Realität beitragen, denn dann sagt sie auch etwas über die Mechanismen und Grenzen von Wahrnehmung.

Die in der Ausstellung gezeigten zehn fotografischen Positionen betreiben genau diese Selbstreflexion ihres Mediums. Sie alle stellen sich quer zum dokumentarischen Anspruch des " so und nicht anders ist es gewesen". Die künstlerischen Strategien hierfür mögen verschieden sein - sie reichen von der Ausreizung der technischen Bearbeitungsmöglichkeit des Fotos über die Collage bis hin zur Kombination mit Malerei, Skulptur und Sprache, gemeinsam ist ihnen jedoch ein Grundgedanke: Der belichtete Film ist nur ein Teil im großen Puzzle der Realität(swahrnehmung), aber eines, das durch Addition von anderen Puzzleteilen zu einem komplexen Ganzen werden kann.

Anmerkungen:
1. Marta Rosler: Bildsimultationen, Computersimulationen: einige Überlegungen, in: Fotografie nach der Fotografie, Dresden / Basel 1995,
S. 36-57
2. Susan Sonntag: Über Fotografie, München / Wien 1978








zurück:
Top: