Wolfgang Lüttgens
Texte Renate Puvogel
"Der ferne Raum"
Einführungsvortrag zur Ausstellung der ferne Raum, Forum für Kunst und Kultur Herzogenrath in der Euregio e.V., 2009



Sicherlich werden Sie bei Ihrem ersten Umschauen bemerkt haben, dass es im Eingangsbereich sozusagen ‚runde Sachen' gibt , während es in den beiden Ausstellungsräumen grob gesagt eher kantig zugeht. Diese Gliederung schafft zunächst einmal ein auf die unterschiedlichen Räumlichkeiten zugeschnittenes, ästhetisch angenehmes Bild. Darüber hinaus ist sie sowohl formal als auch inhaltlich begründet. Dennoch überwiegen die Gemeinsamkeiten. Diese Verwandtschaften zeichnen nicht nur diese beiden Werkgruppen aus, sondern liegen überhaupt sämtlichen Arbeiten von Wolfgang Lüttgens zu Grunde, seien es nun Zeichnungen, Fotografien, Skulpturen, Installationen oder Textarbeiten: In allen Werken spricht sich das Grundanliegen des Künstlers aus, nämlich das, was man als Realität bezeichnen kann, zu befragen, zu hinterfragen, mit ihren Darstellungsmöglichkeiten zu spielen und ihr neue Erscheinungsformen zu geben. Ausgangspunkt bei allen fotografischen Arbeiten ist die Momentaufnahme eines Raumes, eines räumlichen Ambientes; hier handelt es sich vornehmlich um Aufnahmen seines Ateliers, also seiner persönlichen Umgebung. Möglicherweise inspiriert Lüttgens ausgerechnet das ihm Vertraute, um es durch Manipulieren zu verrätseln und ihm neuartige Aussagen zusprechen zu können.

Für die Interpretation von chronologischer Zeit gilt ja bekanntlich, dass eine augenblickliche Situation sozusagen den Schnittpunkt im Verlauf der Zeit markiert und unmittelbar darauf bereits vergangen ist. Dies gilt in besonderem Maße auch für die Fotografie. Indem sich Lüttgens nun mit einem solchen Zeugnis beschäftigt, begibt er sich in einen Imaginationsraum zwischen Erinnern und Fabulieren eines Neuen, Zukünftigen. Lüttgens beschreitet zwei Wege, um zu einer neuen bildlichen Realität zu gelangen: er abstrahiert und er fragmentiert; dabei lassen sich diese beiden Vorgehensweisen nicht scharf voneinander trennen, wie gerade diese Ausstellung zeigt. Sie werden mir aber sicherlich zustimmen, dass in den Arbeiten im Vorraum eher das Fragmentieren dominiert, während diejenigen der Haupträume in erster Linie durch Abstrahieren bestimmt sind.

Beginnen wir mit ersteren: Runde, unterschiedlich große Ausschnitte, aus heterogenen Fotovorlagen extrahiert, sind über der Wand wie verstreute Galaxien verteilt. Da die einzelnen Bildchen auf Trägerkarton aufgezogen sind, treten sie, im Vorbeigehen von der Seite betrachtet, reliefartig hervor. Sie strukturieren den Raum und sind trotz ihrer divergierenden Größe, trotz unterschiedlicher Helldunkelwerte und räumlicher Inhalte zu einer Gesamtkomposition erbunden. Sie stellen gleichsam die translozierte Netzhaut der Augen dar, auf welcher die fragmentierte Wirklichkeit gespeichert ist. Die Leere zwischen den Realitätsfetzen macht deren Unzulänglichkeit wie aber auch deren Faszination besonders augenscheinlich.

Auch in den zu Sechserblöcken zusammengestellten runden Fotoausschnitten auf der hinteren Wand rhythmisiert nicht zuletzt der Wechsel zwischen Bild und Leere das Gesamtbild. Man wird überrascht sein, dass die Fotos ihre eindringliche Wirkung ganz besonders aus der Tatsache beziehen, dass es sich um bearbeitete Negative handelt - eine Reminiszenz an die alte analoge Bildaufzeichnung. Der Wahrheitsgehalt beider Methoden der Wiedergabe von Welt muss, wie man weiß, bezweifelt werden.

Wenden wir uns nun den Arbeiten in den beiden Ausstellungsräumen zu, die, wie wir eingangs bemerkten, in einem für ein Bild vertrauten rechteckigen Format daher kommen. Doch so gebräuchlich ist das von Lüttgens gewählte Format keineswegs, denn er arbeitet weder mit dem Hochformat, mit dem man gemeinhin Figur assoziiert, noch mit dem Querformat, in welchem vornehmlich Landschaft dargestellt wird; stattdessen bevorzugt er in seinen Bildern ein Format, das annähernd quadratisch ist. Man fragt sich, warum ausgerechnet dieses Format. Ich habe mir diese Frage neulich nochmals angesichts der im Kölner Museum Ludwig gezeigten abstrakten Gemälde von Gerhard Richter gestellt und bin zu folgendem Ergebnis gekommen: Es könnte sein, dass das quadratische Format am wenigsten eindeutig ist und dass es gerade der Abstraktion hilfreich entgegenkommt. Nicht umsonst hat Kasimir Malewitsch mit seinem "Schwarzen Quadrat" das erste abstrakte Gemälde geschaffen. Und Josef Albers handelt in seinen "Homage to the Square" seine Untersuchungen über die Wirkungen von Farbe an der Form des Quadrats ab. Auch für das Darstellen räumlicher Zusammenhänge, wie sie Lüttgens anstrebt, ist das quadratische Bildformat vorteilhaft, denn wenn man sich Raum an sich vorstellt, so landet man doch wohl beim Kubus, der minimalsten Figur, und nicht etwa beim rechteckigen Raum, der bereits individuelle Eigenschaften trägt. Bei den Fotos von Lüttgens öffnet das quadratische Format darüber hinaus den Bildraum in den Realraum hinein, und zwar insbesondere dadurch, dass die Fotos ungerahmt sind. Da sich die Fotos aber lediglich dem Quadrat annähern und aus jedem gängigen Format ausbrechen, liefern sie keine bindenden Korrelationen und bieten dem irritierten Auge wenig Halt innerhalb des Bildgefüges.
Führen wir uns kurz die Vorgehensweise des Künstlers vor Augen, wobei man vorausschicken sollte, dass er eigentlich kein Fotograf im klassischen Sinne ist. Er arbeitet mit Fotos wie mit anderen Materialien und Medien auch, Fotos sind in erster Linie Werkstoffe. Lüttgens trifft aus seinem Vorrat an Fotografien eine Auswahl und verwendet sie ganz oder Teile von ihnen für das angestrebte Bild. Da er alle Fotos der Bearbeitung am Computer unterzieht, kann er nicht nur Schicht auf Schicht legen, sondern Segmente auch einer bereits vorhandenen Fotoebene unterschieben. Der Aufbau findet also nicht wie in der Malerei stufenweise vom Grund zur Oberfläche statt - sondern das sogenannte "Figur-Grund-Verhältnis" ist zu einem Wechselverhältnis gleichwertiger Ebenen geworden; es stellt sich dem heutigen globalen Raum-Zeit-Verständnis gemäß sozusagen als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen dar. Das Foto, welches eigentlich etwas Reales abbildet, wird aus der Fixierung in Raum und Zeit wieder erlöst.
Das digitale Bearbeiten gewährt Lüttgens großen Spielraum; er kann durch Verschieben einzelner Partien, durch deren Verdoppeln, Verzerren und Ändern ihrer Größe zu verschachtelten, inkongruenten Räumlichkeiten gelangen. Es ergeben sich Raumbrüche und verschiedene Tiefenstaffelungen. In den detailreichen Fotos des kleineren Ausstellungsraumes ist auf Grund der spiegelnden Fläche der Betrachter mitsamt dem realen Raum zusätzlich hineingenommen. So wird aus dem vertrauten Raum "der ferne Raum", wie die Ausstellung betitelt ist.

Obgleich die Arbeitsgänge der neuen Fotografien im großen Ausstellungsraum vergleichbar sind, ist deren Wirkung eine erstaunlich andere. Auch hier kommt Farbe ins Spiel, aber diese entstammt nicht nur einem Detail der Farbfotografie sondern tritt als rein abstrakte Fläche ins Bild. Zu dieser Wirkung gelangt Lüttgens zusätzlich dadurch, dass hier die fertigen Fotos nicht mehr wie im Diasec den reflektierenden Plexiglasscheiben von hinten aufgeklebt sind, sondern dass er Inkjet Drucke herstellt, deren Oberfläche matt ist. Mit Hilfe dieser Technik erhalten die Fotos eine erstaunlich malerische Qualität. Der Betrachter kann mitunter kaum unterscheiden, ob das Bild und insbesondere die abstrakte Fläche fotografischen Ursprungs ist oder aber handwerklich gemalt wurde. Dadurch, dass sich die Ebenen von Realität und Abstraktion sowohl fotografisch als auch malerisch zu artikulieren scheinen, verdoppelt sich gewissermaßen deren Wert. Doch die Bilder behalten letztlich ihre Homogenität, weil die abstrakten Partien eben nicht mit Farbe und Pinsel aufgetragen, sondern auch mittels digitaler Manipulation eingefügt wurden. Die aus weniger Einzelmerkmalen bestehende Gesamtkomposition dieser Bilder verströmt einen großräumigeren, ganzheitlichen Atem. Hier sind sämtliche Kriterien bildnerischen Schaffens erreicht: Lüttgens kreiert aus einem Reservoir von Realitätspartikeln eine neue Bildrealität.

Letztlich ist es ja das Ziel einer künstlerischen Arbeit, welche sich an der Realität reibt, eine Bild-Realität herzustellen, die jenseits des Wirklichen eigenen innerbildlichen Gesetzen von Aufbau, Komposition und Interpretation gehorcht; und dieses Bild gibt durch das konstruktive, reflektierende Verarbeiten des Wirklichen, wie sich dies auch immer artikuliert, auf Umwegen wiederum einen Spiegel der unendlich vielfältigen, widersprüchlichen und unergründbaren Realität.

Renate Puvogel


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