Wolfgang Lüttgens
Texte Thomas v. Taschitzki
"An der Grenze der Sichtbarkeit"
Katalogtext zur Ausstellung: „InSicht", Gothaer-Kunstforum, Köln, 1999

Reduzierte, ungegenständliche Farbmalerei gegenüber skulpturalen und bildhaften Werken mit Fotografie - die Arbeiten von Dorothee Joachim und Wolfgang Lüttgens gehören weit auseinanderliegenden Bereichen der bildenden Kunst an und entwickeln doch auch deutliche Zusammenhänge. Es geschieht etwas, das den Idealfall einer Doppelausstellung darstellt: Zwei verschiedene Positionen und Werk-Charaktere verstärken sich in ihrer jeweiligen Identität und bauen zugleich zahlreiche unterschwellige Bezüge zueinander auf.

Diese Verbindungen entstehen weniger auf direkte räumlich-optische leise, als durch verwandte künstlerische Strategien und Mentalitäten. an könnte beide Künstler als visuelle Grenzgänger bezeichnen, denn auf je eigene Weise führen sie das Sehen in extreme Bereiche hinein: Ist es im „Bassin" von Wolfgang Lüttgens die Überforderung der visuellen Wahrnehmung durch eine unüberschaubare Fülle fotografischer Informationen, so kann er Betrachter vor Dorothee Joachims Bildern die Erfahrung einer scheinbaren Leere machen, die mit der Zeit einen ungeahnten Reichtum von Nuancen offenbart. In gewissem Sinne arbeiten beide Künstler daran, das Sehen in die Nähe zum Nicht-Sehen, zum Nicht-Mehr und zum Noch-Nicht-Sehen, zu bringen Aus dieser prekären Wahrnehmungssituation erwachsen nachhaltige Irritationen, die je nach innerer Bereitschaft als Zumutung oder als reizvolle Herausforderung erlebt werden können. Die Werke erschließen sich dem routinierten, schnell erfassenden Blick und fordern eine eigene Zeit, einen eigenen Rhythmus. So zeigt sich die Arbeit „Bassin" nur demjenigen in ihren vollen Potential, der sich darauf einlässt, sie aus unterschiedlichsten Perspektiven zu betrachten - vom distanzierten Blick auf einen minimalistischen skulpturalen Raumkörper mit grautonig melierter Oberfläche bis zum Nahblick auf die Details der einzelnen schwarzweißen Fotos. Die zu einer weitläufigen rechteckigen Fläche dicht aneinander montierten Fotografien versammeln Motive aus unterschiedlichen Lebensbereichen des Künstlers: Vernissagenbesuche, Stadt- und Landschaftsaufnahmen, Reisefotos, Porträts von Freunden, Schnappschüsse und gezielt komponierte Fotos bilden im scheinbaren willkürlichen motivischen Nebeneinander ein chaotisches, aber auf seine Weise auch gleichmäßiges Bilderfeld. Wer an das „Bassin" herantritt, sieht die am Rand befindlichen Fotos aus nächster Nähe. Zur Mitte der Fläche hin wird der Blickwinkel immer flacher, und ein gewisser Bereich in der Mitte bleibt, vor allem durch die Entfernung bedingt, unerkennbar. Es ergibt sich ein gleitender Übergang vom konkret Erkennbaren über das Erfahrbare hin zur Auflösung in ungegenständliche Strukturen. Durch ihre glänzende Oberfläche reflektieren die Fotos außerdem das Licht und spiegeln den Raum.

Auch der Betrachter sieht sich gespiegelt, wenn er, wie im Mythos von Narziß, senkrecht auf die glatte Oberfläche blickt. Der tragische Sturz ins eigene Spiegelbild droht ihm zwar nicht, doch ermöglicht dieses Foto-Bassin andere Formen des Eintauchens und der Versenkung. Die gleichzeitige Präsenz einer solch unüberschaubaren Menge privater dokumentarischer Fotos macht die Arbeit zu einer Art Zeit- und Gedächtnisspeicher, zu einem Reservoir der Erinnerungen. Die Fotooberfläche suggeriert die Vorstellung einer obersten Ebene eines immensen visuellen Archivs, aus dessen tieferen Schichten jederzeit weitere Bilder an die Oberfläche aufsteigen können. Das Einzelbild verliert seinen Stellenwert in dem Maße, wie es als bloßer Mosaikstein im Gesamtzusammenhang aufgeht und verschwindet. Das „Bassin" verflüssigt die dokumentarische Realität zu einem grautonigen Realitäts-Kontinuum, in dem es nicht mehr so sehr um Addition von Details, als um die Suggestion einer Totalität von gespeicherter Erinnerung und Erfahrung geht. Wolfgang Lüttgens setzt in seinen Arbeiten das Medium Fotografie ein, um den Betrachter mit seiner eigenen Wahrnehmung und Wirklichkeitsaneignung rückzukoppeln. In seinen Loch-Ausreißungen und in den rahmenhaften Arbeiten aus aneinandergestückelten Kontaktabzügen wird das Foto zur Marginalie, zur Randerscheinung, die von einem leeren Zentrum dominiert wird. Vergleichbar mit dem „Bassin" wird auch hier im Zentrum das Sehen negiert, oder, positiv gewendet, das innere Sehen, die Imagination, angesprochen. Mit dem einfachen Mittel des Ausreißens von Fotopapier aus der Mitte verrätselt Lüttgens die fotografische Realität. Was einerseits den Charakter des bewusstem Vorenthaltens von optischer Information trägt, ermöglicht eine andere, distanziertere und reflektiertere Handlung zum Medium Fotografie, zum Umgang mit ihm, und zum Sehen insgesamt. Im Verzicht auf das Sichtbare liegt auch ein asketischer, abstinenter Zug. Das Umschlagen von Überfülle an optischer Information in radikale Leere erinnert an jene philosophisch-religiösen Vorstellungen von der sichtbaren Realität als einer Sinnestäuschung, die vom eigentlichen Wesen der Dinge und der Welt ablenkt. Die Mystiker aller Zeiten schlossen die Auge vor der äußeren Welt, um zu dem vorzudringen, „was die Welt im innersten zusammenhält".

Wolfgang Lüttgens setzt beides in Spannung zueinander, die Über- und die Unterforderung des Sehens, die Fülle und die Leere, das äußere Sehen und die Imagination, und ermöglicht dem Betrachter eine Meditation mit geöffneten Augen. .........
........... Im erneuten Blick auf die Arbeit „Bassin" von Wolfgang Lüttgens wird deutlich, dass für beide Künstler das Verhältnis zwischen Bild und Raum eine entscheidende Rolle spielt. Erscheint dies im Falle von Dorothee Joachims „white cube" als Suche nach einer spannungsvollen farblich- atmosphärischen Beziehung der Bilder untereinander und im Verhältnis zum Raum, so setzt Wolfgang Lüttgens die horizontale Fotofläche seines „Bassins" in Beziehung zum gesamten Hallenraum und dessen unterschiedlichen Blickpunkten.
Auf ihre Weise rechnen beide Künstler mit Betrachtern, die in den ihnen übertragenen Anteil am Werke erkennen und sich das verborgene Erfahrungspotenzial der Arbeiten in Zeit und Raum produktiv erschließen.
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